18.11.2020

Starkoch Tim Raue: „Ich bin ganz viel – aber ganz bestimmt nicht Harmonie und Finesse“

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Er wuchs in einfachen Verhältnissen auf, war Teil einer Jugendbande und hat dann das Kochen für sich entdeckt. Heute liegt Tim Raue die Gastro-Welt zu Füßen: 2019 wurde er zum besten Koch Deutschlands gewählt, das Restaurant Tim Raue im Berliner Stadtteil Kreuzberg wurde 2020 mit zwei Michelin-Sternen und 19,5 Punkten im Gault & Millau ausgezeichnet und rangiert aktuell auf Platz 40 der Liste „The World’s 50 Best Restaurants 2019“ im britischen Restaurant Magazin. Im Interview mit dem AGA-Magazin spricht Tim Raue über seinen beispiellosen Aufstieg in den kulinarischen Sternenhimmel und seine Rolle als Unternehmer in der Krise.

Tim Raue betreibt in Berlin und Potsdam weitere Restaurants, ist Geschäftspartner von Günter Jauch und kocht im Fernsehen zusammen mit Tim Mälzer. Er hat sich seine Erfolge hart erarbeitet – und er musste in der Corona-Krise eine neue Idee entwickeln, um seine Restaurants und die wirtschaftliche Existenz zu sichern.

Kochen – ist das für Sie Handwerk oder Kunst?

Tim Raue: Das wird wahrscheinlich ewig eine große Diskussion bleiben. Für mich ist es eine Verbindung aus beidem. Das Handwerk besteht darin, dass man einen Zander perfekt filetiert und so auf den Punkt gart, dass der Gast damit glücklich ist. Die Kunst kommt für mich ins Spiel, wenn ich etwas schaffe, was es vorher nicht gab oder einzigartige Sinneseindrücke definiert. Wenn ich also um den Zander herum eine Aromenwelt aus Sake, Beurre Blanc, Sauerampfer, Sauerampferöl, grünem japanischen Rettich, einem Salat von Trauben, Rettich, Wasabi und Holunderblüte kreiere, dann ist das Kunst. Denn es entlockt dem Gast mit dem ersten Löffel Emotionen – welcher Art auch immer. Natürlich ist es beim Kochen auch absolut elementar, die besten Produkte zu verwenden. Das kann man gut mit der Formel 1 vergleichen: Wenn du nicht den besten Motor und das beste Material hast, wirst du nicht ganz vorne landen.

Was ist Ihre Motivation beim Kochen?

Raue: Kochen war für mich am Anfang meines Berufslebens die absolute Möglichkeit, dort herauszukommen, wo ich herkomme. Schule war nicht mein Ding. Dementsprechend kam für mich auch nur ein Handwerksberuf in Frage. Was mich in der Küche und beim Kochen immer fasziniert hat: dass man schnell ein Ergebnis hat. Und das ist oft brutal. Wenn du an einem Abend auf deinem Posten 150 Salate anrichtest und drei davon sind falsch gewürzt oder es ist noch ein bisschen Sand drin, dann kriegst du direkt in die Fresse. Dann wünschst du dir manchmal, dass es nicht so viel Feedback gibt. Mich hat das aber immer angespornt und ich habe immer aus Fehlern gelernt und aus Kritik etwas Positives gezogen.

Dabei sind Sie schnell über Grenzen gegangen …

Raue: Kochen hat bis vor etwa sechs Jahren mein Leben und meine Persönlichkeit bestimmt. Ich war Kochen, war der Koch Tim Raue, der Küchenchef Tim Raue. Erst mit Anfang 40 habe ich angefangen, ein Privatleben zu entwickeln. Heute händle ich Kochen ganz einfach: Wenn ich eine blaue Uniform anhabe, bin ich Tim Raue der Küchenchef. Und wenn ich die ausziehe, bin ich einfach Tim. Ich führe ein wunderbares Leben, das mich wiederum in meiner Position als Küchenchef deutlich ruhiger und gelassener hat werden lassen. Und es sind viel schönere Kreationen dabei herausgekommen.

Sie haben eine große Leidenschaft für die asiatische Küche. Warum?

Raue: Ich wurde Anfang der 2000er weltweiter Küchendirektor für die Hotelgruppe Raffles und Swissôtel, die aus Singapur kam. Ich bin dann dort hingereist und das hat mein gesamtes kulinarisches Verständnis gedreht. Wie alle deutschen Köche meiner Generation bin ich mit der französischen Küche groß geworden. Aber ehrlicherweise hat mich die franzö­sische Hochküche emotional nie wirklich begeistert. Da geht es um Harmonie, um Finesse. Ich bin ganz viel - aber ganz bestimmt nicht Harmonie und Fines­se. Ich bin eher hau drauf und Spaß. Meine Küche ist eher wie House-Musik mit Farbreflexen und Vocals, als dass da jemand so schön mit der Violine vor sich hinfiedelt. An den Gaumen muss Süße, Säure und Schärfe. Da muss etwas passieren. Mein Besuch in Singapur hat mich so begeistert, dass ich danach drei Jahre lang die chinesische, thailändische und japanische Küche studiert habe. Erst dann hatte ich das Rückgrat zu sagen: Ab morgen mache ich nicht mehr das, was ihr von mir erwartet. Ich mache das, was mich glücklich macht. Und das ist diese sehr eigene Interpretation einer Küche, mit der ich Men­schen auf der ganzen Welt begeistern kann. 

Beschreiben Sie bitte einmal, wie Sie ein neues Geschmackserlebnis kreieren. 

Raue: Das ist ein Zusammenspiel aus dem Haupt­produkt, dem Wissen, was ich in der ganzen Welt schon gegessen habe, und einer Fügung, die mir in dem Moment sagt: Wir machen heute Kaisergranat. Lass es uns doch mal mit Süßkartoffel versuchen. Und hast du nicht letztens diese Vinaigrette aus geräucher­ten Tomaten und Paprika gemacht? Dann muss man kontrollieren, ob das funktioniert. Bis wir dann die Geschmackswelt geklärt haben, dauert es manchmal mehrere Tage. Bis wir dann noch die Proportionen definiert und das Gericht grob fertig haben, dauert es ein, zwei Wochen. Und dann hinterfragen wir nochmal alles. Die größte Schwierigkeit, die ich auch bei den meisten Kollegen feststelle, die auch in der Liste der 50 besten Restaurants der Welt sind: Wenn du auf die­sem Niveau kochst, haust du nicht mehr einfach ein neues Gericht raus. Du hinterfragst jede Nuance, jede Kleinigkeit. Weil du weißt, dass die Gäste teilweise tausende von Kilometern durch die Welt fliegen, um bei dir zu essen. Da geht es nicht mehr um Zufälle, Glück oder Bauchgefühl. 

Sie wurden 2019 von der Zeitschrift Rolling Pin als bester Koch Deutschlands ausgezeichnet. Was bedeutet Ihnen dieser Titel? 

Raue: Die Auszeichnung hat mich bewegt. So richtig umgehen kann ich damit aber nicht, weil ich extrem selbstkritisch bin. Grundsätzlich habe ich früh in meinem Leben begriffen, dass ich anders bin. Ich bin nicht Mainstream, ich gefalle nicht allen und jedem. Ich bin schon immer jemand, der ganz weit vorne mitspielt - aber immer ein Stück weit außen steht, weil er vieles anders macht als die anderen. Das mache ich aber nicht, weil ich mir morgens überlege, wie ich anders sein kann, sondern weil ich einfach ich bin. Ich bin authentisch, habe eine bewegte Lebens­geschichte und habe irgendwann für mich definiert: Ich möchte nicht mehr verhehlen und verstecken dass ich von der Straße komme. Ich bin, wie ich bin'. Ich sage das, was ich denke. Und was ich sage und denke, meine ich auch so. 

Sie beschreiben in Ihrem Buch „My Way“Ihren Lebensweg vom Berliner Kiez in den kulinarischen Sternenhimmel. Mit welchen Tugenden haben Sie diesen Weg gemeistert?

Raue: Das ist ganz einfach: mit Willensstärke und  Disziplin. Ich spiele im Kopf alles mehrfach durch. Das heißt, ich minimiere Fehler und all das, was um mich herum ausfallen kann. Ich bin ständig flexibel im Kopf. Mein Universum dreht sich um meine Arbeit und ich bestimme, wer in meinen Bereich hereinkommt, was ich mache und was nicht. Das bedeutet aber auch, dass vieles in meinem Leben nicht existiert. Aber Erfolg kostet sehr viel und bedeutet Verzicht.

Sie bezeichnen sich selbst als Egozentriker. Wie wichtig ist trotzdem Teamarbeit für Sie?

Raue: Elementar. Ich habe mich immer als kleines Rädchen in einem großen Ganzen gesehen. Mein Job ist es, das zu machen, was ich am besten kann. Und das ist die Außendarstellung, die Geschichten zu den Gerichten zu definieren, etwas zu kreieren, Menschen zu motivieren und zu begeistern. Das Team ist für mich elementar. Viele von denen, die mit mir arbeiten,  machen das schon sehr lange. Der Grund liegt darin, dass ich alles, was ich erreiche, immer auch teile. 

Sie sind nicht nur Koch, sondern auch Unternehmer. Welche Rolle gefällt Ihnen besser?

Raue: Die Facette Koch ist sehr anstrengend und  kostet mich am meisten Kraft. Unternehmer zu sein, ist für mich leichter. Anderen zu vertrauen, sie anzu-spornen, ein Konzept zu kreieren, in dem man gemein-sam aufgeht und das man lebt – das ist etwas, was ich mühelos bestreite. 

Wie haben Sie unternehmerisches Denken gelernt?

Raue: Ich glaube, das hast du oder du hast es nicht. Entweder du möchtest die Dinge entscheiden oder nicht. Bei mir war es so, dass meine damalige Frau und jetzige Geschäftspartnerin Marie Raue diejenige war, die mich in die Selbständigkeit mit ihr gedrängt hat. Ich habe mich im Anstellungsverhältnis nie als Angestellter gesehen, sondern als Projektmanager, der einen Auf-trag hatte. Ich habe in einem Hotel angefangen, weil die Bude scheiße lief und weil ich sie besser und erfolg- reicher machen wollte. Ich hatte immer höhere Ambitionen als die, die mich eingestellt haben. Wenn deren Idee war, dass ich aus dem Restaurant ein Ein-Sterne-Restaurant machen sollte, wollte ich zwei Sterne. Für mich war das, was andere als Erwartungshaltung hatten, nur eine Etappe auf dem Weg, wo ich hinwollte. Ich habe mir nie viel sagen lassen, sondern über dem gelebt, was man von mir wollte. Damit bin ich bis heute sehr gut gefahren. 

Wie viel Durchhaltevermögen braucht es als Unternehmer? 

Raue: Ich würde es nicht als Durchhaltevermögen beschreiben, sondern als Verbindung aus Willens- stärke und Solidarität. Wenn ich Unternehmer bin, habe ich eine Verantwortung den Menschen gegen-über, mit denen ich zusammenarbeite. Gerade in Situationen wie der Corona-Krise ist Solidarität etwas, was uns ausmacht. Dann zeigt sich, wer von uns tatsäch-lich menschlich und charakterlich in Ordnung ist. Natürlich sind das auch Momente, in denen wir geprüft werden, in denen Herausforderungen auf uns zukommen. Aber es sind die Momente, in denen man sieht, wer tatsächlich vorneweg gehen kann, wer Ideen und Kraft hat und Investitionen nicht scheut. Das sind diejenigen, die ich am meisten respektiere. 

Sie waren einer der prominentesten Vertreter der METRO-Initiative #restartGastro. Inwieweit mussten Sie Ihr eigenes Geschäftsmodell überdenken? Und ist der Neustart geglückt?

Raue: Wir haben keinen Restart hingelegt. Marie Raue und ich haben frühzeitig gesehen, dass wir das Restaurant schließen müssen und uns Gedanken gemacht, welche Alternativen wir haben. Wir sind in der Gastronomie im Niedriglohn-Bereich angesiedelt und deshalb war für uns das Naheliegendste und Solidarischste, dass wir etwas für unsere Belegschaft tun. Das, was wir können, ist Essen und Trinken servieren. Und wenn wir dieses Erlebnis nach Hause bringen, dann machen wir das, so gut wir können. Wir haben uns sofort auf die Idee eines Lieferservices gestürzt, eine Website und einen Namen kreiert, meine fünf ku­linarischen Konzepte in dieses Restaurant implemen­tiert und dann ging es los. Wir sind dann zur METRO gefahren, haben dort nach den nachhaltigsten Verpackungen und Logistiksystemen geguckt. Marie und ich haben in dieser Zeit so viel geackert wie noch nie. Für uns stand es definitiv auf des Messers Schneide, große Kredite aufnehmen zu müssen, um über die Runden zu kommen. Wir haben in dieser Zeit viel Geld verloren. Oder anders: Wir haben viel Geld investiert, das wir anders verplant hatten. Aber wir sind mutig vorangegangen. 

Was war in dieser Zeit das größte Learning für Sie?

Raue: Ich hatte kein Learning. Ich wusste immer, dass ich unter Druck funktionieren kann. Im Frühjahr 2020 war es ein ganz gewaltiger wirtschaftlicher Druck. Viel größer als der Performance-Druck, immer zu den Bes­ten zu gehören. Da ging es um die pure wirtschaftliche und unternehmerische Existenz. Das einzige Learning, das ich hatte, war: Ich kann es immer noch. 

METRO-Initiative #restartGastro 

Eine breite Allianz aus Köchen und Restaurant­betreibern, Großhandelsverbänden, Großhänd­lern, Lebensmittelproduzenten, Küchenausstat­tern und Beratern für die Gastronomie sowie Gastro-Fachmedien hatte sich während des Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 mit einem eindringlichen Appell an die Bundeskanzlerin gewandt.

Sie kritisierten, dass in den damaligen Uberlegungen zum Neustart des Wirtschafts­lebens die Gastronomie keine Berücksichtigung gefunden hatte. Mehr als 220.000 Gastronomie­betriebe in Deutschland mit ca. 2,4 Millionen Beschäftigten forderten von der Bundesregie­rung, einen Neustart im Sinne der Infektions­prävention zu ermöglichen - und sie waren damit erfolgreich. Der AGA Unternehmens­verband gehörte zu den ersten Unterstützern dieser wichtigen METRO-Initiative. Starkoch Tim Raue war neben Tim Mälzer eines der bekann­testen Gesichter von #restartGastro.

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