16.11.2021

Norddeutschland fällt weiter zurück – ein gemeinsames Ziel muss her

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Corona hat uns die Augen geöffnet: Die Pandemie hat gezeigt, wie sehr wir in der digitalen Steinzeit verhaftet sind, wie wenig effizient viele Behörden arbeiten, wie verwundbar die deutsche Wohlstandsgesellschaft ist. Der Schock kann heilsam sein, ein neuer Aufbruch ist von Nöten. Zugleich lehrt die Pandemie, wie wenig einheitlich Politik gemacht wird.

Ein Kommentar von Matthias Iken
Wirtschaftspsychologinnen in der Arbeitsgruppe Psychische Gesundheit am Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin (ZfAM)

Hamburg und Schleswig-Holstein, die in früheren Sommerlöchern Hinterbänkler gern zu einem Nordstaat verschmolzen, agieren dabei wie Antipoden: Während Hamburg Ausgangsbeschränkungen verhängte, wagte der Norden in Modellregionen schon erste touristische Öffnungen. Und während Niedersachsen moderate Lockerungen anging, sperrte Mecklenburg- Vorpommern über Wochen noch Touristen aus.

Mit einer gemeinsamen Politik klappt es im Norden nicht. Das sind schlechte Voraussetzungen – allen Wohlfühlparolen zum Trotz, hinkt der Norden dem Süden der Republik hinterher. Die Metropolregion Hamburg ist eine wachstumsschwache Region in einem ohnehin nicht besonders wachstumsstarken Land. Die Pandemie hat die Situation noch verschlechtert: 2020 ging das Bruttoinlandsprodukt in den Stadtstaaten Bremen (minus 7,0 Prozent) und Hamburg (minus 5,8 Prozent) überdurchschnittlich zurück. Besser hielten sich die Flächenländer Mecklenburg- Vorpommern (minus 3,2 Prozent) und Schleswig- Holstein (minus 3,4 Prozent). Auf dem Bundesschnitt lag Niedersachsen mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung von 4,9 Prozent.

In vielen Branchen mehren sich zeitgleich die Warnzeichen. Schon seit mehr als zehn Jahren stagniert der Umschlag in Hamburgs Hafen. Zudem hat die Pandemie die Luftfahrtbranche, im Norden traditionell stark, hart getroffen. Das Messegeschäft ist kollabiert, was Hannover und Hamburg das Leben schwer macht. Hinzu kommen strukturelle Probleme: Im Norden mangelt es nicht nur an Hochqualifizierten, sondern auch an Hightech-Jobs. Die Arbeitsproduktivität ist nicht nur niedriger als im Süden der Republik, sondern auch als in vergleichbaren Regionen etwa rund um Göteborg, Rotterdam oder Kopenhagen. Es fehlen – abgesehen von Volkswagen und Airbus – große internationale Player. In den fünf norddeutschen Bundesländern gibt es mit Airbus, Continental, Sartorius und VW nur vier Dax-Unternehmen.

Ein weiteres Problem ist die Innovationsschwäche. 2018 lag der Anteil von Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt in Schleswig-Holstein bei kümmerlichen 1,64 Prozent, der zweitschlechteste Wert überhaupt. Unter dem Schnitt lagen auch Hamburg (2,22), Bremen (2,88) sowie Mecklenburg-Vorpommern (1,81). Nur Niedersachen gelang es mit 3,13 Prozent, den Bundesschnitt zu erreichen. Zwar gibt es manche gute Ideen, aber jeder kämpft für sich allein. Unvergessen der kleinkarierte Streit um die Windmesse zwischen Hamburg und Husum, statt als Norden gemeinsam von der neuen Technologie zu profitieren. Oder die Querschläger aus Hannover gegen die Fahrrinnenanpassung der Elbe – obwohl der Hamburger Hafen als zweitgrößter Arbeitgeber für Niedersachsen gilt.

Dabei lautete der Ratschlag des „OECD-Bericht zur Regionalentwicklung Metropolregion Hamburg“ 2019: „Think big! In größeren Kategorien zu denken, grenzüberschreitend zu planen und zu kooperieren – darin liegt der Schlüssel, um die Metropolregion noch erfolgreicher, attraktiver und nachhaltiger zu gestalten.“

Immerhin mehren sich die Zeichen der Hoffnung – derzeit loten die Hafenbetreiber HHLA und Eurogate eine Zusammenarbeit aus, welche die Häfen in Bremerhaven, Hamburg und Wilhelmshaven näher zusammenführen könnte. Die zwei Jahrzehnte alte Idee der Deutschen Bucht AG, sie könnte endlich Wirklichkeit werden. „Wir müssen bei den Häfen anfangen, norddeutsch zu denken und nicht in Landesgrenzen“, sagt beispielsweise Hamburgs Wirtschaftssenator Westhagemann. Das sind neue Töne aus Hamburg. Allerdings ziehen sich die Verhandlungen seit mehr als einem Jahr hin – das Kirchturmdenken ist offenbar noch quicklebendig.

Auch die Energiewende wird endlich über die Landesgrenzen hinaus geplant. Sie bietet sich an, mit einer bestehenden Infrastruktur und billigem Windstrom als Standort zu punkten. Die Idee, den Hamburger Hafen zu einem Erzeugungs- und Umschlagplatz für „grünen“ Wasserstoff zu machen, geht in die richtige Richtung.

Zeiten des Umbruchs sind Zeiten des Wandels – und des Aufbruchs und Fortschritts. Die Krise zwingt zum Handeln. Lange Zeit hat sich gerade die Hansestadt auf ihrem Wohlstand ausgeruht. Während man sich hier nach dem Fall des Eisernen Vorhangs über die Rückkehr des Hinterlandes freuen durfte, nutzten Bayern, Baden-Württemberg, aber auch Berlin, die Zeitenwende für Investitionen: Sie setzten auf Forschung und Entwicklung, Universitäten und Hochschulen und wurden die Wachstumszentren der Republik. Innovation ist der Motor des Wandels. Sie entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit und die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft von morgen – und damit über den Wohlstand der Regionen. Sie garantiert sichere Jobs und gute Löhne. Bildung und Qualifizierung, Forschung und Entwicklung, Gründertum und Start-ups sowie Investitionen in die Infrastruktur sind die entscheidenden Stellschrauben.

Wenn ein jeder für sich allein muddelt, wird daraus nichts werden. Die Corona-Krise birgt die Chance, nach vorne zu kommen – wenn sie Denken und Handeln ändert. Das wird nur gelingen, wenn länderübergreifende Politik wirklich grenzüberschreitend denkt. Statt Eifersüchteleien bedarf es der Bereitschaft, zu geben und zu nehmen. Statt Kirchturmdenken muss es um Perspektiven für die ganze Region gehen, parteipolitische Eifersüchteleien müssen hinter dem großen Ganzen zurücktreten. Ob es gelingt?